Themenschwerpunkt „Kinderarmut und Corona“
Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung und die Kinderschutz-Akademie des Kinderschutzbundes Landesverband Niedersachsen e.V. können in diesem Jahr keinen Niedersächsischen Kinderschutzkongress in der gewohnten Form durchführen. Da für unsere Arbeit, insbesondere während der Corona-Zeit, das geplante Thema „Kinderarmut“ von höchster Relevanz ist, möchten wir den Fachkräften einen längerfristigen Themenschwerpunkt an dieser Stelle bieten.
Wir werden in den kommenden Monaten die unten stehenden Beiträge fortlaufend ergänzen.
Kinderarmut und Corona
Mitte März wurden Kindertageseinrichtungen, Schulen und so gut wie alle Freizeit- und Unterstützungsangebote für Kinder geschlossen. Viele Familien haben ihren Alltag wochenlang weitestgehend isoliert gestaltet, sind gleichzeitig von drohender Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder fehlenden Aufträgen betroffen. Das bringt finanzielle Sorgen mit sich, die beispielsweise durch fehlende Mittagsangebote für die Kinder und geschlossene Hilfseinrichtungen noch verstärkt werden können.
Neben den finanziellen Sorgen können sich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ebenso gravierende Nachteile beim sogenannten Homeschooling ergeben. Nicht jede Familie verfügt über einen Internetanschluss, ein geeignetes technisches Gerät oder die Kompetenzen, die Anforderungen des von-Zuhause-Lernens zu erfüllen. Viele Kinder haben zudem kein eigenes Kinderzimmer, somit keinen ruhigen Rückzugsort für konzentriertes Lernen. Damit haben die Kinder ungleich schlechtere Lernbedingungen, je länger sie zu Hause bleiben.
Um den Druck für die Kinder und Jugendlichen zu mindern, bedarf es von allen Akteuren einer besonderen Anerkennung für diese nie dagewesene Situation. Es ist wichtig, den beginnenden Präsenzunterricht dafür zu nutzen, besonders achtsam miteinander umzugehen und das soziale Miteinander zu stärken.
Bundesweite Studie: Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie
Wie es Eltern und ihren Kindern während der Corona-Pandemie geht, wie ihr aktuelles Wohlbefinden ist, was ihren Alltag kennzeichnet, wie die Passung zu den Regelungen der Kitabetreuung, Schulöffnung und auch der Arbeitgeber*innen ist – dies sind die Kernfragen der Onlinebefragung KiCo, welche im Zeitraum vom 24.04.2020 – 03.05.2020 durchgeführt wurde. Dieses Papier präsentiert erste Ergebnisse der Studie, an der über 25.000 Personen teilgenommen haben. Die Studie wurde umgesetzt vom Forschungsverbund "Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit", der sich aus den Universitäten Hildesheim, Frankfurt und Bielefeld zusammensetzt.
Das Dokument steht im Internet kostenfrei als elektronische Publikation (Open Access) zur Verfügung unter:
https://dx.doi.org/10.18442/121
Ein Kernergebnis der Studie: soziale Folgen zeigen sich möglicherweise besonders dort, wo bereits vor der Pandemie strukturelle Benachteiligung und multiple Belastungen vorlagen. So gibt beispielsweise gerade die Gruppe der Ein-Eltern-Haushalte an, die größten Geldsorgen zu haben.
Kinderarmut in Deutschland
Kinderarmut ist in Deutschland seit Jahren auf einem hohen Niveau. Jedes fünfte Kind lebt in Armut – das sind bundesweit über 2,5 Millionen. Längsschnittbetrachtungen weisen darauf hin, dass ein großer Teil der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen dauerhafte oder wiederkehrende Armutslagen erleben (Tophoven et al. 2017 und Bertelsmann-Stiftung 2018).
Besonders von Armut bedroht sind drei Gruppen: Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder mit mindestens zwei Geschwistern und Kinder mit geringqualifizierten Eltern. Armut bei Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich gravierend von Armut unter Erwachsenen. Kinder sind grundsätzlich erst einmal abhängig von ihrem Lebensumfeld und den Erwachsenen, die sie umgeben. Sie können je nach Alter gar nicht oder kaum auf die materielle und soziale Lage ihrer Umgebung Einfluss nehmen. Sie erfahren materielle, kulturelle und soziale Einschränkungen, die mitunter schwerwiegend sind und von langfristigen Folgen begleitet sein können.
So gilt anhaltende familiäre Armut, die mit erschwerten Bedingungen für die Grundversorgung der Familie einhergeht, als Risikofaktor im Hinblick auf Kindesvernachlässigung. In Familien, bei denen mehrere Phänomene zusammentreffen, ist die innerfamiliäre Belastung besonders hoch. Gleichzeitig sind die psychischen, sozialen und ökonomischen Kräfte begrenzt.
Arm zu sein heißt, auf vieles verzichten zu müssen, was für Gleichaltrige ganz normal zum Aufwachsen dazugehört. Vor allem schließt es von vielen sozialen und kulturellen Aktivitäten aus. Und Verzicht und Mangel haben langfristig Folgen: Wer schon als Kind arm ist und nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, hat auch in der Schule nachweisbar schlechtere Chancen. Das wiederum verringert die Möglichkeit, später ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Armut zu führen (Bertelsmann-Stiftung 2017).
Handlungsfelder in der Bearbeitung von Kinderarmut
Prof. Dr. Johannes Schütte
Technische Hochschule Köln
Video: Kinderarmut und Handlungsfelder der Bearbeitung
Ein paar Fragen an Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS). Es geht um die von ISS und Arbeiterwohlfahrt (AWO) durchgeführte Langzeitstudie „Wenn Kinderarmut erwachsen wird. Langzeitstudie zu (Langzeit-)Folgen von Armut im Lebensverlauf“.
Die Kurzfassung der Studie „Wenn Kinderarmut erwachsen wird…“ finden Sie hier.
Was macht die von Ihnen durchgeführte Studie zum Thema Kinderarmut so besonders?
Die seit 1997 von der Arbeiterwohlfahrt finanzierte und vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. umgesetzte AWO-ISS-Langzeitstudie widmet sich der Erforschung von Folgen familiärer Armut auf die Entwicklung der Kinder vom Vorschulalter bis zum 25. Lebensjahr. Beginnend mit 893 Kindern, die im Jahr 1999 sechs Jahre alt waren und 60 bundesweit verteilten AWO Kindertageseinrichtungen besucht haben, gelang es den Forschenden die Lebensverläufe vieler dieser Kinder zu insgesamt vier Zeitpunkten und stets differenziert nach ihren Lebenslagen und Armutserfahrungen bei kritischen Übergängen im Leben – von der Kita bis zum jungen Erwachsenenalter – zu untersuchen. Bei der letzten Befragung im Jahr 2018 wurden nun 205 ehemalige Sechsjährige und heute junge Erwachsene wiedererreicht. Dabei wurden nicht nur quantitative Daten, sondern auch qualitative Daten in Form von Interviews mit ausgewählten Studienteilnehmenden und deren Eltern in die Analyse einbezogen. Es gibt bislang in Deutschland keine weitere vergleichbare Studie, die so viele Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Muster beleuchtet.
Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, in Armut aufzuwachsen?
Es hängt davon ab, von welchem Alter wir sprechen. Kinder haben in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, aber auch verschiedene Entwicklungsaufgaben. Die Unterschiede zwischen den armutsbetroffenen Kindern und ihren Altersgenossen aus finanziell besser gestellten Familien lassen sich bereits im Kita-Alter feststellen: Sie weisen häufiger Spiel- und Sprachauffälligkeiten auf, ihre Grob- und Feinmotorik ist schlechter entwickelt, sie sind häufiger entweder sehr zurückhaltend oder umgekehrt aggressiv. Im Schulalter erleben die Kinder aus armen Familien zudem häufiger Benachteiligung in sozialen und kulturellen Bereichen. Selten können sie ihre Freunde nach Hause einladen, den eigenen Geburtstag feiern oder zu anderen Kindern zum Geburtstag kommen, weil das Geld für ein Geschenk fehlt. Sie streben niedrigere Schulabschlüsse an und können häufiger nicht auf Unterstützung im familiären Umfeld zurückgreifen. Armut im jungen Erwachsenenalter geht vor allem mit massiven Einschränkungen in materiellen Grundversorgung und Teilhabe sowie schlechter psychischer Gesundheit einher. Einschränkungen in den kulturellen und sozialen Lagen sind bei den jungen Erwachsenen insgesamt zwar weniger ausgeprägt. Sie kumulieren jedoch bei einzelnen Personen, die wiederum häufig in Armut leben. Werden die Langzeitfolgen von Kinderarmut betrachtet, so lassen sich diese insbesondere im kulturellen Bereich – schlechtere Bildungs- und Qualifizierungsniveaus – sowie im gesundheitlichen Bereich – insbesondere mit Blick auf psychische Gesundheit – feststellen.
Gab es für Sie überraschende Ergebnisse?
Es gab einige Hypothesen, die wir im Rahmen unserer Studie nicht bestätigen konnten, wie zum Beispiel, dass es Migrantenkindern – die als Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko gilt – schlechter geht als Studienteilnehmenden ohne Migrationserfahrungen oder dass auch mittlere Bildung vor Armut schützt. Nein, dies tut sie nicht mehr. Gleichzeitig konnten wir belegen, was auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheint, und zwar, dass es zwei Dritteln der ehemals armen Kinder dennoch gelungen ist, die familiäre Armut im jungen Erwachsenenalter hinter sich zu lassen. Dementsprechend ist jedes dritte Kind, das mit sechs Jahren in einer armen Familie aufgewachsen ist auch als junge erwachsene Person arm. Das eigene Armutsrisiko im jungen Erwachsenenalter hängt also eng mit den Armutserfahrungen in der Kindheit zusammen.
Was empfehlen Sie auf Grund Ihrer Studienergebnisse für die Ausgestaltung von Instrumenten, um die Lebenssituation von Kindern in Armut nachhaltig zu verbessern?
Diese Frage hat sich die Arbeiterwohlfahrt als Auftraggeber, der die Studie nun seit mehr als 23 Jahren finanziert, in jeder Studienphase gestellt und auch dieses Mal auf den Ebenen des Bundesverbandes, der Landesverbände und der Kreisverbände diskutiert. Im Ergebnis dieses Prozesses hat die AWO fünf zentrale Forderungen an die Politik formuliert, die ich gern punktuell aufgreifen würde. An erster Stelle gilt es, Einkommens- und Familienarmut wirkungsvoll zu bekämpfen, indem die Rahmenbedingungen für gute und existenzsichernde Arbeit weiter verbessert werden. Durch eine Reform der kinder- und familienpolitischen Leistungen soll das soziokulturelle Existenzminimum aller Kinder verlässlich abgebildet und bereitgestellt werden. Hierzu ist die Einführung einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung erforderlich. Auch die soziale Infrastruktur zu stärken, zu verzahnen und präventiv auszurichten, ist wichtig, da diese für alle Menschen vor Ort in allen Lebenslagen als verlässliche Unterstützung zur Verfügung stehen sollte. In Bildung sollte verstärkt investiert werden, damit eine nachhaltige Integration aller jungen Erwachsenen in Ausbildung und Arbeit erfolgen kann. Alle junge Menschen sollen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben im Wohlergehen haben und zwar unabhängig davon, ob ihre Eltern ihnen dies ermöglichen konnten oder nicht. Es ist schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Einschätzung von Kindeswohlgefährdung im Kontext von Armut
Annette Berger
LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut, Landesjugendamt Rheinland
Empowerment von Armut betroffener Jugendlicher
Benjamin Ollendorf
KinderStärken e.V., Institut an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Zwar sind von Armut betroffene Jugendliche divers in ihren Bildungserfolgen, Interessen, sozialen Netzwerken u.v.m. Dennoch folgen aus den Armutslagen Benachteiligungen, mit denen die Einzelnen umgehen müssen. Sie müssen zum Teil höhere Hürden überwinden, um bspw. erfolgreich in der Schule sein zu können oder ihren Interessen nachzugehen. Empowerment ist ein Ansatz, um benachteiligte Menschen zu unterstützen, ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Kontrolle zur Gestaltung ihrer (sozialen) Lebenswelten zu erlangen. Der Ansatz verhindert nicht die eigentliche Armut und damit verbundene Nachteile! Er ist also kein Ersatz für Politiken zur Beseitigung von (Kinder- und Jugend) Armut in Deutschland. Aber er kann betroffene Menschen in erheblichem Maße stärken, Nachteile besser zu bewältigen.
Die ca. 15-minütige Präsentation möchte Denkanstöße liefern. Zunächst wird die Zielgruppe beschrieben, dann Empowerment erörtert und zuletzt zwei Praxisbeispiele vorgestellt.
Unser Projekt „Mitten drin! Jung und aktiv in Niedersachsen. Für Kinder und Jugendliche – gemeinsam gegen Kinderarmut und Benachteiligung!“
Ein Projekt des Kinderschutzbundes LV Niedersachsen e.V., ermöglicht durch die Förderung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.
Bis Ende 2022 stellt das Land Niedersachsen noch einmal insgesamt 1.2 Mio. Euro zur Verfügung, damit landesweit Projekte durchgeführt werden können, die benachteiligte Kinder und Jugendliche unterstützen. Das Augenmerk liegt auf chancengerechter Teilhabe, Förderung und Unterstützung bei der Entwicklung und Entfaltung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Gefördert werden Mikroprojekte mit maximal 3.000 Euro und Makroprojekte mit bis zu 10.000 Euro.
Ziel des landesweiten Programms ist es, Kinder und Jugendliche in benachteiligten Lebenssituationen in die Lage zu versetzen, besser am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Angebote sollen sich in erster Linie richten an Kinder und Jugendliche
- aus prekären Familienverhältnissen
- aus Ein-Eltern-Familien / mit allein erziehenden Müttern und Vätern
- mit Gewalterfahrungen innerhalb der Familie
- im Lebensumfeld ohne festen Wohnsitz
Die geförderten Projekte sollen Benachteiligungen entgegen wirken und junge Menschen befähigen, sich ihre Lebenswelt aktiv anzueignen und ihr Lebensfeld aktiv mitzugestalten und sind für Schulkinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren konzipiert.
Die Projekte dienen der Förderung zur Stärkung von Resilienz und Selbstwirksamkeit – der Erfahrung, dass das eigene Handeln auch etwas bewirkt, der Förderung von Mobilität, Begegnungen und Vernetzung sowie der Förderung von Sprachkompetenz, emotionaler und sozialer Kompetenz.
Während der Coronazeit erreichten uns besonders kreative, flexible und engagierte Projektideen. Beispielsweis wird eine geplante Ferienfreizeit an die Ostsee auf Grund fehlender Planungssicherheit nicht wie geplant stattfinden können. Kurzerhand wurde ein Hygienekonzept erstellt und für mehrere Kleingruppen eine Zeltfreizeit auf dem Gelände des Projektträgers organisiert.
In einem weiteren Projekt wurde von einem Sportverein kurzfristig ein Online-Sport-Angebot für Kinder und Jugendliche entwickelt, um die Schließung sämtlicher Sport- und Freizeitmöglichkeiten zu kompensieren.
Wir freuen uns über jedes Projekt, dass trotz oder gerade wegen dieser besonderen Situation für die Kinder und Jugendlichen umgesetzt werden kann!
Alle Informationen zum Projekt finden Sie hier https://www.mittendrin-niedersachsen.de/