Ein Elternbrief
Alexander Korittko ist Dipl. Sozialarbeiter, Paar- und Familientherapeut, Syst. Lehrtherapeut und Supervisor (DGSF); Mitbegründer des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (ZPTN), Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.
Liebe Eltern,
das Auftauchen des Virus Corvid-19 hat Maßnahmen zur Folge, die uns vor Ansteckungsgefahr und erheblicher Verbreitung des Virus schützen sollen. Dazu zählt auch die Empfehlung, direkte Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts zu vermeiden, ja sogar die allermeiste Zeit in den „eigenen vier Wänden“ zu verbringen. Auch wenn die gemeinsamen Anstrengungen bisher zum Erfolg geführt haben, sind solche extremen Maßnahmen für viele Menschen schwer zu ertragen. Ich teile Ihnen daher ein paar Ideen mit, die einerseits zum Nachdenken anregen sollen, aber auch dazu verhelfen können, diese Zeiten besser zu verkraften.
Ein giftiger Cocktail
Es ist als hätten wir es mit einem giftigen Cocktail zu tun, vor dem wir uns in Acht nehmen müssen, ihn nicht unkontrolliert zu schlucken. Er besteht aus folgenden Zutaten: dem biologische Virus Corvid-19, Angst als emotionalem Virus, den sozialen Medien als digitalem Virus und der wirtschaftlichen Folgen als ökonomischem Virus. Ein Bestandteil davon kann nicht ohne die anderen gedacht oder gefühlt werden. Dieser Cocktail ist neu und betrifft die gesamte Welt. Was kann man tun, um diesen Cocktail zu neutralisieren?
Der biologische Virus:
Bevor ein Impfstoff vorhanden ist und zur Verfügung gestellt wird, gelten die bekannten Regeln: Abstand halten, auf Sauberkeit achten. Die Nutzung von Masken in öffentlichen Räumen erhöhen die Sicherheit für sich selbst und andere (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln). Natürlich muss man immer wieder selbst entscheiden, wie intensiv man welcher empfohlenen Regel folgt. Grundsätzlich wird jedoch nicht einschätzbar sein, wann wer wie angesteckt wird und wie dann die Krankheit verläuft. Plötzliche hohe Infektionszahlen in sogenannten „hot spots“ zeigen, dass der Virus nach wie vor eine Gefahr darstellt und sich innerhalb von Tagen verbreiten kann.
Der emotionale Virus:
Ein bekannter Trauma-Forscher sagt, dass wir weltweit in einer prä-traumatischen Wolke leben. Wir befinden uns nicht in einer lebensbedrohlichen Situation, doch sie kann jederzeit unkontrollierbar passieren. Wenn die Welt da draußen nicht mehr einschätzbar wird, entsteht Angst. Es gibt vielerlei Möglichkeiten mit dieser Angst umzugehen: sie zu verleugnen und zu verdrängen, Überwachung und Kontrolle zu erhöhen und, nicht zuletzt, nach Schuldigen zu suchen. Wenn wir angesichts von Angst mit alltäglichen Handlungsmustern nicht mehr weiterkommen, bleibt jedoch das einzige, was wir sinnvoll planen können, uns selbst und unsere eigenen Reaktionen. Und da gibt es drei Grundregeln, die uns Bewältigung ermöglichen und gegen Gefühle von Hilflosigkeit und Angst helfen:
- Dem Tagesablauf eine Struktur geben
- Kontakt mit Menschen aufrechterhalten, denen man vertraut
- Körperlich aktiv bleiben
Dem Tagesablauf eine Struktur geben
Wenn die Welt völlig unberechenbar wird, kann man in Angst und Schrecken erstarren und das Gefühl für Zeit und Handlungsfähigkeit verlieren. Dagegen hilft es, dem Leben eine Struktur zu geben und voraussagbare Tagesabläufe zu entwickeln. Wann stehe ich auf, wann wird gefrühstückt? Welche Zeiten sind für die Arbeit im Home-Office reserviert, welche Zeit zum Spielen mit den Kindern? Wann beschäftigen sich die Kinder mit ihren Schulaufgaben? Welche Zeiten verbringen wir gemeinsam, welche Zeiten jeder für sich? Wer von den Erwachsenen übernimmt welche Aufgaben, wer kann von außen helfen? Ein Organisationsplan für die Abläufe in der Familie schützt vor dem intensiven Einfluss der äußeren Unvorhersagbarkeit. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie strukturieren können. Es wird Ihnen helfen, ruhiger zu werden und ein Gefühl von persönlicher Vorhersagbarkeit zu entwickeln. Keine Angst vor Langeweile, daraus entstehen oft Ideen, auf die man nie gekommen wäre, wenn man sich allzu intensiv durch die Medien unterhalten lässt.
Kontakt zu vertrauensvollen Menschen
Genau genommen trifft der Begriff „Social Distancing“, also „soziales Distanzieren“ nicht zu. Gemeint ist ja eher eine körperliche Distanz, die vor Ansteckung schützen soll. Auf der anderen Seite haben viele Menschen in Zeiten des „Lock-down“ gemerkt, dass es ihnen gutgetan hat, aus der Ferne soziale Kontakte zu pflegen, also ein „Distant Socialising“, wenn man die englischen Begriffe weiterhin verwenden möchte. Über das Telefon, über WhatsApp und über E-Mail fand ja auch schon lange vor Corona intensiver Kontakt statt. Da muss man sich nicht an etwas völlig Neues gewöhnen. Neu ist vielleicht, dass es sinnvoll ist, Kontakte zu pflegen, die einem gut tun. Mit Freunden, Bekannten oder Verwandten, die eher mit unerfreulichen Themen oder Stimmungen unterwegs sind, möchte man vielleicht weniger häufig sprechen. Menschen, die optimistische Stimmungen verbreiten und von denen man durch einen Kontakt Unterstützung erhofft, möchte man vielleicht täglich sehen und sprechen. Und es kann auch sein, dass man die unangenehmen Dinge eher per E-Mail erledigt, die angenehmen Kontakte eher per WhatsApp mit oder ohne Video-Chat pflegt. So bekommt der Ausdruck „Smartphone“ eine ganz neue Bedeutung: smart auswählen, wie man die technischen Möglichkeiten wann benutzt. In manchen Familien gibt es auch eine Smartphone-freie Zeit: bei den gemeinsamen Mahlzeiten, am Abend, nachts und am Morgen. Auch in Corona-Zeiten findet mit Minderjährigen Erziehung statt, dabei sind – wie immer – die Erwachsenen zu allererst Vorbild, aber auch diejenigen, die die Regeln festlegen, die in der Familie gelten sollen.
Körperlich aktiv bleiben
In den vergangenen Monaten gab es auch zu Zeiten des Lock-down – anders als in Spanien oder Italien - unbegrenzt die Möglichkeit, sich zu zweit oder im Familienverbund außerhalb der Wohnung zu bewegen. Sofern dies auch zukünftig in Deutschland der Fall sein wird, sollten Sie diese Chance zu körperlicher Bewegung nutzen. Wer den ganzen Tag sitzt und Medien konsumiert, wird das Gefühl von Eingesperrt-sein und Hilflosigkeit körperlich verstärken. Nutzen Sie Formen der körperlichen Bewegung zu Hause und draußen. Spüren Sie die Energie ihres Körpers durch einfache Übungen wie Gymnastik, Yoga, Liegestütze oder Sit-ups. Planen Sie Spaziergänge oder Fahrradtouren in ihren Tagesablauf ein. Falls Sie befürchten, in zu intensiven Kontakt mit fremden Menschen zu kommen, nutzen Sie Zeiten am frühen Morgen oder am Abend und wählen Sie Straßen und Wege, auf den erfahrungsgemäß weniger Menschen unterwegs sind. Bleiben Sie körperlich aktiv, zu Hause oder draußen.
Der mediale Virus:
Jede Art von sensationellen Ereignissen führt einerseits zu großem Interesse. Man möchte gespannt so viel wie möglich von den ungewöhnlichen Informationen aufsaugen und im Kontakt mit anderen Menschen besprechen. Der eintönige Alltag wird eine wenig bunter und aufregender und das Gespräch mit anderen darüber hilft, das Ungewöhnliche einzusortieren. Menschen versuchen zu verstehen, was passiert ist. Darüber hinaus wollen sie eigene Handlungs-möglichkeiten erweitern und für in dem Ereignis einen Sinn finden. Dazu werden auch Informationen genutzt, die von den Medien durch die Nachrichten und Diskussionsrunden zur Verfügung gestellt werden. Irgendwann setzt aber ein anderer Prozess ein, eine Übersättigung durch zu viel Informationen. Dann kommen Gedanken wie „Ach, nicht schon wieder!“ oder die durch die Medien vermittelten Informationen werden völlig vermieden. Es ist zu grausam, zu viel oder zu verwirrend. Letztendlich kann man sich den Informationen nicht völlig entziehen. Dann kommt es darauf an, inwiefern man sich vor einer Informationsüberflutung schützt Vielen Menschen reicht es aus, sich einmal am Tag durch eine Zeitung oder eine Nachrichtensendung zu informieren und ansonsten sich mit Dingen zu beschäftigen, die jenseits der Corona-Krise existieren: ein Buch lesen, einem Hobby nachgehen, mit den Kindern etwas spielen usw. Diese Menschen können mit Ungewissheiten umgehen, sie haben eine Ungewissheitstoleranz.
Wer es aber nicht gut aushalten kann, mit Zweifeln und mit Ungewissheit umzugehen und das Vertrauen in Politiker und Experten verloren hat, kann eindeutige Antworten bei so genannten Verschwörungserzählungen finden. In Krisenzeiten hat es immer Menschen gegeben, die auf komplexe und vielschichtige Fragen einfache Antworten parat hatten. Solche Erzählungen beinhalten ein klares Feindbild (jemand hat Schuld), haben einen alleinigen Wahrheitsanspruch (alle anderen habe keine Ahnung), sind nicht zu überprüfen (das sind Tatsachen) und produzieren Spaltungen (wir gegen die anderen). Einige rufen zu Gewalt auf, quasi als Notwehr. Durch die sozialen Medien (YouTube, Twitter, Facebook usw.) erhalten diese Erzählungen eine rasend schnelle Verbreitung. Bitte prüfen Sie sehr genau, ob Sie bereit sind, bei vielschichtigen Problemen einfachen Erklärungen und Heilsversprechen zu vertrauen. In Krisenzeiten bleibt es wichtig, kritisch zu sein, in alle Richtungen.
Eine Empfehlung: vermeiden Sie Berichte im Fernsehen oder im Radio mit allzu emotionalem Unterton. Lenken Sie ihre Aufmerksamkeit lieber auf die kleinen angenehmen Dinge des Alltags, die es immer gibt: ein gutes Essen, hilfsbereite Nachbarn, ein Blick aus dem Fenster, tolle Musik, ein interessantes Buch. Solche Erlebnisse werden zukünftig Erinnerungen daran sein, dass es selbst in schwierigen Zeiten positive Momente gibt.
Der ökonomische Virus
Für viele Menschen hat der „Lock-down“ zu wirtschaftlichen Problemen geführt: viele wur-den arbeitslos, andere sind durch Kurzarbeit in finanzielle Not geraten, manche Firmen werden sich nicht erholen, große Unternehmen verringern ihre Produktion. Die staatlichen Hilfsprogramme erreichen bei Weitem nicht alle, die durch Corona in Bedrängnis geraten sind. Die Mehrzahl der Kulturschaffenden befindet sich in existenzieller Not. Andererseits haben einige die Zeichen der Zeit für sich genutzt und neue Geschäftsmodelle entwickelt. Bei einer Reihe von Experten, die sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen befassen, entsteht Hoffnung, dass die ausschließliche Orientierung an Geld und Gewinn des Kapitalismus in der Folge von Corona einen Ausgleich durch eine stärkere Orientierung an Menschlichkeit und Solidarität erfährt: Freunde und Familie werden in Krisenzeiten wichtiger.
Familienbeziehungen
Wenn die Familie wichtiger wird als materieller Wohlstand, kommt es darauf an, das Familienleben so zu gestalten, dass es als wichtigstes „Überlebensmittel“ wertvoll bleibt. In der Zeit des „Corona Lock-Down“ im März und April 2020 waren plötzlich durch den Wegfall von Arbeitsplatz, Schule und Kindergarten viele Familien 24 Stunden 7 Tage lang zusammen. Das war ein Zustand, an den sich viele erst gewöhnen mussten. Er führte bei einer Reihe von Eltern zu Überforderung, unter anderem war das an der intensiven Nutzung von Krisentelefondiensten abzulesen. Doch viele haben auch entdecken können, wie gut sie als Eltern mit ihren Kindern umgehen können, eine Fähigkeit, die sie nicht mehr von sich kannten. Manche fühlten sich bei der erforderlichen Hilfe beim „Home-Schooling“ teilweise oder völlig hilflos, andere konnten es sogar genießen, ihren Kindern beim Lernen zuzusehen und sie dabei zu unterstützen. Einige entwickelten Freude dabei, eigenes Schulwissen wieder zu entdecken und aufzufrischen. Auch Eltern von kleineren Kindern haben gemerkt, dass sie noch genauso gut in der Lage sind, ihre Kleinen in der Entwicklung zu begleiten und zu fördern wie Profis in Kindertagesstätten.
Welche Eigenschaften haben Familien, die mit Krisen umgehen können?
In der Familienforschung spricht man von Resilienz, wenn Familien mit Krisen umgehen können und möglicherweise sogar gestärkt aus Krisen hervorgehen. Resilienz bezeichnet das Gedeihen trotz widriger Umstände. Resiliente Familien zeigen folgende Eigenschaften:
1. Sie sehen Krisen als Herausforderungen, etwas Neues zu tun. Sie haben optimistische Einstellungen, Mut und Vertrauen, schwierige Zeiten gemeinsam zu bewältigen. Mit Beharrlichkeit verfolgen sie die Überwindung von Hindernissen. Sie können auch unterscheiden, was möglich ist und worauf sie keinen Einfluss haben.
2. Sie sind flexibel in der Rollenaufteilung. In einer kooperativen Beziehung können sich die Erwachsenen in Führungsautorität abwechseln. Vater und Mutter sehen sich als gleichwertige erwachsene Partner. In Einelternfamilien kann sich der Erwachsene andere Erwachsene Unterstützung suchen (z.B. Großeltern). Es besteht Respekt für unterschiedliche Bedürfnisse, in Konflikten besteht eine Versöhnungsbereitschaft. Es besteht auch die Bereitschaft, Hilfe von außen entgegen zu nehmen und anderen zu helfen.
3. Sie können klar kommunizieren, Wort und Taten stimmen überein. Sie bringen Ge-fühle zum Ausdruck und akzeptieren Unterschiede. Sie gönnen sich Ruhepausen und Humor. Sie wollen Probleme gemeinsam lösen und treffen gemeinsame Entscheidungen. Sie setzen sich überschaubare Ziele und können aus Rückschlägen lernen.
Je mehr eine Familie diese Eigenschaften entwickelt hat, umso deutlicher besteht die Hoffnung, dass sie gestärkt aus einer Krise hervor geht. Wenn Kinder und Eltern tagsüber gemeinsam zu Hause sind, kann das sehr schön sein. Es kann aber auch sehr anstrengend sein. Manchmal helfen schon einfache Sachen, um solche besonderen Zeiten besser zu überstehen. Wer Anregungen sucht, kann unter der Internet-Adresse www.elternsein.info unter der Rubrik „Ideen für Familien“ von Fachleuten zusammengestellte Vorschläge nachlesen. In Zeiten, in denen die Erwachsenen erschöpft sind und nicht wissen, wie es weiter gehen kann, sollten sie sich Hilfe von außen holen. Eine Möglichkeit unter vielen sind Beratungstelefone und Krisendienste.
Und die Kinder?
Kinder verstehen die Welt oft anders als Erwachsene. Sie fühlen sich nicht immer besser, wenn sie viele Erklärungen mit vielen Fachausdrücken hören. Sie werden dann vielleicht erst recht ängstlich, ohne dass sie ihre Gefühle in Worte fassen können. Sie werden dann vielleicht besonders anhänglich, weinen oft, haben Wutausbrüche oder nässen ein. Sie benötigen dann besonders viel Zeit mit den Erwachsenen.
Ein Gefühl von Sicherheit ist für Kinder besonders wichtig. Vielleicht entsteht es, wenn man beruhigend mit ihnen spricht, sie umarmt oder streichelt. Sie benötigen besondere Aufmerksamkeit von ihren wichtigsten Bezugspersonen. Manche fühlen sich zusätzlich sicherer, wenn sie ihr Lieblingskuscheltier mit sich herumtragen.
Manche Kinder zeigen ihre Gefühle und Gedanken im Spiel, in Zeichnungen oder in Ge-schichten, oft in für Erwachsene ungewöhnlicher Art. Wir brauchen Geduld, um ihre Aus-drucksweise zu verstehen. Geben Sie ihrem Kind ein Blatt Papier und bitte Sie darum, dass es seine Ängste und Befürchtungen in einer Farbe seiner Wahl zeichnet. Wenn das erste Bild fertig ist, sollte das Kind ein zweites Bild zeichnen, auf dem zu sehen ist, wie alles besser wird. Dann kann man mit dem Kind darüber sprechen, was auf dem zweiten Bild zu sehen ist.
Eltern denken manchmal, die Kinder würden sowieso nichts von dem verstehen, was passiert. Selbst wenn das so ist, reagieren sie doch sehr sensibel auf die Stimmung der Eltern. Das Ausbleiben von Erklärungen mag zu nicht enden wollenden Fragen führen wie „Warum darf ich nicht raus?“ oder „Warum darf ich nicht mit anderen Kindern spielen?“. Erklären Sie dem Kind die Situation auf kindgerechte Weise. Vergleichen Sie die Gefahr z.B. mit einem Sturm. Wenn es stürmt, bleibt man am besten gemeinsam zu Hause, danach kann man wieder heraus gehen. Auf der Webseite von Björn Enno Hermans finden Sie ein Bilderbuch. „Aufregung im Wunderwald“ heißt es. Man kann es als Hörbuch herunter laden oder auch als Bilderbuch (sogar in vielen Sprachen). www.praxis-hermans.de.
Bleiben Sie gesund,
Ihr Alexander Korittko